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20 Jahre verschlafen: Warum die deutsche Wirtschaft wirklich lahmt und wie sie aus der Krise kommen kann
Standortradar Deutschland von DSW und Advyce & Company
Düsseldorf, 12. Februar 2025 – Die Krise der deutschen Wirtschaft ist in weiten Teilen auf veraltete Strukturen, aufgeblähte Verwaltungen und eine erschreckend schwache Innovationskraft zurückzuführen. Die oftmals angeführten hohen Energiepreise spielen in den meisten Branchen lediglich eine untergeordnete Rolle. Dies ist ein Ergebnis des „Standortradar Deutschland: Wirtschaft, Transformation, Zukunft“, durchgeführt von der Strategieberatung Advyce & Company in Kooperation mit der Deutschen Schutzgemeinschaft für Wertpapierbesitz e.V. (DSW). Auf Basis einer umfangreichen Datenanalyse mit Unterstützung des mehrfach ausgezeichneten KI-Spezialisten Hase & Igel wurden die Felder Energiekosten, internationaler Wettbewerb, Fachkräftemangel, Regulatorik sowie Lohn- und Strukturkosten in ihrer Auswirkung auf den Transformationsbedarf der 100 im HDAX gelisteten großen deutschen Unternehmen untersucht.
Den mit Abstand größten Krisenfaktor stellen in der Untersuchung die Lohn- und Strukturkosten der Unternehmen dar (Anteil am Transformationsdruck 31 Prozent), gefolgt von der Regulatorik (24 Prozent), dem härter werdenden internationalen Wettbewerb (21 Prozent) sowie dem Fachkräftemangel (20 Prozent). Den weitaus geringsten Druck üben - entgegen der öffentlichen Wahrnehmung - die gestiegenen Energiekosten aus: Mit lediglich vier Prozent sind sie mit Abstand der schwächste Faktor in der Untersuchung.
Energiekosten: Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt
Die Last steigender Energiekosten trifft in Deutschland de facto nur einige Branchen wirklich spürbar: Chemische Industrie, Rohstoffproduzenten und Energieversorger. Für den Großteil der deutschen Wirtschaft, von der Automobilindustrie über den Maschinenbau bis hin zur IT- und Gesundheitsbranche, spielen sie nur eine untergeordnete Rolle, wenn man sie in Relation zu anderen Kostenquellen betrachtet. Die große mediale Beachtung für das Thema lässt sich dadurch erklären, dass die Energiekosten der berühmte „letzte Tropfen“ sind, der das Fass zum Überlaufen bringt, nachdem die Unternehmen bereits aufgrund anderer Aspekte arg herausgefordert sind.
Wettbewerb dringt in vormals isolierte Branchen vor
Der internationale Wettbewerb setzt insbesondere die Automobilbranche stark unter Druck. Der Maschinen- und Anlagenbau ist ebenfalls betroffen, punktet aber noch mit dem Label „Made in Germany“. Allerdings trifft der internationale Wettbewerb nun zunehmend auch Branchen, die bislang wenig Erfahrung mit dieser Herausforderung haben, wie die Energieunternehmen und Versorger.
Fachkräftemangel besonders in Zukunftsbranchen
Der Fachkräftemangel trifft insbesondere Hightech-Unternehmen und die IT-Branche. Ebenfalls stark betroffen sind der Maschinen- und Anlagenbau sowie die immer wichtigere Rüstungsbranche.
Überregulierung: Ein europäisches Problem
Ein weiteres echtes Problem für deutsche Unternehmen ist die Überregulierung. Rund 97.000 Einzelnormen[i] gilt es derzeit für deutsche Unternehmen zu beachten – 18 Prozent mehr als vor zehn Jahren[ii]. Entgegen der Hoffnung auf einen einheitlichen EU-Markt hat sich dieses Problem durch die sehr unterschiedliche nationale Umsetzung von EU-Vorgaben eher noch verschärft. Heute ist die Regulatorik z.B. in der Finanzbranche und dem Gesundheitssektor oder bei den Energieversorgern ein echter Hemmschuh.
Hausaufgaben seit zwei Jahrzehnten nicht gemacht
Deutlich wird in der Untersuchung aber auch: Über nahezu alle Branchen hinweg üben die Lohn- und Strukturkosten den größten Druck auf die Unternehmen aus. Bei vergleichsweise niedriger Produktivität leisten sich viele Unternehmen immer noch altmodische Organisationsstrukturen mit aufgeblähten Verwaltungen und wenig effizienten, kaum digitalisierten Prozessen – so werden Strukturkosten in die Höhe getrieben. Besonders stark bemerkbar macht sich das in der Finanzbranche, der Gesundheitsbranche und im Maschinen- und Anlagenbau. Dass es besser geht, zeigen die deutschen IT- und Softwareunternehmen, deren Strukturkosten um mehr als 50 Prozent unter dem Durchschnitt liegen – ein klarer Hinweis auf die Effizienzpotenziale moderner, agiler Organisationen und der digitalen Transformation.
Abgehängt bei Forschung & Entwicklung
Mit einer durchschnittlichen Quote für Forschung & Entwicklung (F&E) von nur 4,6 Prozent ist die deutsche Wirtschaft international abgehängt. In den USA lagen die durchschnittlichen F&E Ausgaben im selben Zeitraum laut einer Studie von EY bei 10,2 Prozent[iii] – US-Unternehmen geben also fast das doppelte für Forschung aus. Ein Missverhältnis, das sich mit leichten Schwankungen bereits seit 20 Jahren beobachten lässt. Die Potenziale von Innovationen als Basis neuer Geschäftsmodelle und erfolgreicher Transformation werden in Deutschland viel zu wenig genutzt.
„Finanz- und Schuldenkrise, Corona und der Ukrainekonflikt sind schwierige exogene Herausforderungen. Das darf aber nicht verdecken, dass viele der aktuellen Probleme hausgemacht und das Resultat davon sind, dass Unternehmen wichtige Veränderungen schlicht über zwei Jahrzehnte verschlafen haben. Innovationen und tiefgreifender struktureller Wandel sind natürlich in guten Zeiten deutlich leichter. Aber in den guten Zeiten haben sich viele Unternehmen mit allem beschäftigt, nur nicht mit ihrer eigenen Innovationskraft. In den aktuellen Rahmenbedingungen wird die Transformation nun umso wichtiger – und schwieriger. Viele leben von ihrer Substanz“, sagt Martin Geißler von Advyce.
Premium neu erfinden
Am Beispiel des Automobilsektors wird die ganze Misere deutlich, gleichzeitig finden sich wichtige Fingerzeige aus der Krise. Über viele Jahre haben die deutschen OEMs und Zulieferer an der weiteren, kleinteiligen Perfektionierung ihrer Premiumprodukte gearbeitet. Heute funktionieren die internationalen Märkte aber deutlich anders. Immer schnellere Innovationszyklen und gestiegene Kundenerwartungen verlangen nach neuen, nicht bis ins Letzte perfektionierten Produkten – die aber viel schneller auf dem Markt sind. Bei chinesischen Partnern gelten die deutschen Unternehmen mittlerweile als langsam. Immer wieder wird plakativ „China Speed“ eingefordert[iv].
Dabei gilt: „Vorsprung durch Technik“ war und ist ein guter Claim für den Weg aus der Krise. Dieser Vorsprung war aber nie kleinteilige Perfektion, sondern überlegene Customer Experience. Entscheidend wird es deshalb sein, sich darauf zu besinnen, mutige, innovative Lösungen für echte Kundenprobleme zu entwickeln. Premium definiert sich in Zukunft durch den Kundennutzen! Gelingt uns dies, haben Deutschlands etablierte Marken auch weiterhin alle Chancen auf dem Weltmarkt. Wie das funktionieren kann, hat SAP mit dem Cloud-basierten ERP-System S/4HANA gezeigt. Das innovative Produkt war bei der Einführung 2015 alles andere als fertig und wurde viel kritisiert. In der Rückschau zeigt sich trotzdem, wie richtig dieser Schritt war: Durch den schnellen Release und den mutigen Technologiesprung konnte der Abstand zur Konkurrenz aus den USA aufgeholt und frühzeitig Kundenfeedback gesammelt werden. Heute ist SAP das wertvollste Tech-Unternehmen Europas.
Wie Deutschland aus der Krise kommen kann
Die Untersuchung zeigt: Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Denn noch profitiert Deutschland von einem international einzigartigen Fundament aus gut ausgebildeten Fachkräften und hochspezialisierten Unternehmen in fast allen Branchen.
Gleichzeitig ergeben sich aber auch klare Handlungsfelder - sowohl für die Politik als auch für die Unternehmen selbst. Diese haben die Autoren in je fünf Forderungen zusammengefasst, und sind sich sicher: Deutschland steht am Scheideweg. Wenn nichts geschieht, wird der Abstieg aus der Champions-League der Wirtschaftsnationen nicht aufzuhalten sein. Doch wenn die Verantwortlichen den Mut haben, diesen Forderungen zu folgen, dann ist ein neuerliches „Wirtschaftswunder“ vielleicht nur ein paar Jahre entfernt.
5 Forderungen an die Politik
1. Senken der Lohnnebenkosten
Der Staat muss endlich die Sozialversicherungen reformieren und durch eine dauerhafte Senkung der Lohnnebenkosten wettbewerbsfähige Lohnkosten realisieren.
3. Investitionszuschüsse statt Steuerstrafen
Statt seine Vorzeigeindustrien mit CO2-Steuern & Verboten zu bestrafen, muss die Regierung es den USA und China gleichtun und ihren Schlüsselindustrien durch Zuschüsse und Darlehen bei der Transformation massiv unter die Arme greifen.
4. Schaffen eines gemeinsamen Wirtschaftsraums mit Frankreich
Statt immer neuer nationaler Gesetze muss endlich der große, einheitliche Wirtschaftsraum hergestellt werden, der die EU einmal sein sollte. Zusammen mit Frankreich könnte Deutschland innerhalb der EU vorangehen und einen einheitlichen Wirtschaftsraum mit 150 Millionen Konsumenten schaffen.
5. Pragmatische Energiepolitik, die heimische Ressourcen nutzt
Für eine zukunftsfähige Energieversorgung kann man nicht immer nur zu allem „Nein“ sagen. Deutsches Fracking-Gas wäre klimafreundlicher als amerikanisches LPG und kann eine stabile, von Trump und Putin unabhängige Basis für die Energiewende sein, wenn 2030 die Kohlemeiler vom Netz gehen sollen.
6. Stabilität & Investitionssicherheit garantieren
Ein klares Bekenntnis der Bundesregierung zu den deutschen Kernindustrien und zur Wahrung ihrer Interessen statt ständigem Infragestellen ihrer Zukunftsfähigkeit und massiver regulatorischer Eingriffe ist eine zwingende Bedingung für die Schaffung eines gesunden Investitionsklimas.
5 Forderungen an die Unternehmen
1.
2. Kundennutzen in den Mittelpunkt stellen
Deutsche Unternehmen sind oft einkaufsgesteuert und produktzentriert. Die Unternehmen müssen akzeptieren, dass es im 21. Jahrhundert ausschließlich der Kundennutzen ist, der über den Erfolg entscheidet, und ihr Angebot entsprechend anpassen.
3. Innovationskraft > Ertragskraft
In den vergangenen Jahren haben Unternehmen zu oft ihre Ertragsbringer gestützt, statt mutig auf Innovationen zu setzen. Hier bedarf es einer kompletten Repriorisierung der strategischen Ausrichtung & der Einführung wirkungsvollen Innovationsmanagements.
4. Prozesse & Abteilungen auf das absolut nötige reduzieren
Der Prozess-Fetisch der Deutschen hat in den letzten Jahren Verwaltung & Systeme geradezu explodieren lassen. Hier ist dringend ein hartes Ausdünnen nötig: Gut 30 Prozent der Prozesse und Abteilungen in deutschen Unternehmen sind überflüssig oder können digitalisiert werden!
5. Wertschöpfung in Kernmärkte verlagern
Neue Zölle, Krisen & Kriege haben die Welt zu einem viel volatileren Ort gemacht. Das alte globalisierungs-Modell muss deshalb durch ein „glocalizing“ mit regionalem re-shoring abgelöst werden!
6. Chancen echter Diversität nutzen
Diversität ist mehr als nur Geschlechtergerechtigkeit. Unternehmen müssen endlich gezielt kulturelle Diversität nutzen um Impulse zu geben und Altersgruppen-übergreifende Zusammenarbeitsmodelle einsetzen, um verborgene Arbeitsmarkt-Potenziale zu heben.
[i] Deutscher Bundestag, 2024 (www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-1009624)
[ii] Beck Aktuell, Beitrag vom 27.02.2024 (rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/statistik-buerokratie-seit-2014-stark-zugenommen)
Kontakt:
DSW (Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V.)
Erik Bethkenhagen (Pressesprecher)
Tel.: 0211 / 6697-61
e-mail: erik.bethkenhagen@dsw-info.de
Mitglieder wenden sich bitte an die zuständigen DSW-Mitarbeiter.
Ansprechpartner für die Presse: Erik Bethkenhagen, Pressesprecher